Lesehighlight 2013: Jojo Moyes – Ein ganzes halbes Jahr (Buchrezension)

Jojo Moyes Cover

Das geschah in den ersten Minuten, nachdem ich die letzten Seiten in Jojo Moyes Werk »Ein ganzes halbes Jahr« aus dem Rowohlt Verlag gelesen hatte. Dieser Roman hat Eindruck hinterlassen, es brennt förmlich in mir und ich kann ruhigen Gewissens sagen, dass ich seit »Wunder« nicht mehr soviele Tränen während des Lesens vergossen habe. Doch diese Liebesgeschichte, wie auf dem Klappentext beschrieben, ist kein gewöhnliches Buch. Ich würde es auch nicht unbedingt als Liebesgeschichte bezeichnen, denn es ist eher eine Lebensgeschichte, erfüllt mit der Wärme einer besonderen Freundschaft, die am Ende die zarten Flügel der Liebe um die beiden Protagonisten ausbreitet. Diese Lektüre wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben, warum? Das werde ich euch jetzt erzählen…

Ein ganzes halbes Jahr…

Will Traynor ist ein lebensfroher Mensch, hat eine erfolgreiche Karriere vorzuweisen, ist schon um die halbe Welt gereist und hat eine tolle Frau an seiner Seite. Doch von einer Sekunde auf die andere verändert sein ganzes Leben, als er Opfer eines Motorradunglücks wird und gelähmt, unfähig seine Arme und Beine zu bewegen, in einem Rollstuhl sitzen muss. Will fällt in ein tiefes emotionales Loch, denn er ist nun rund um die Uhr auf die Hilfe anderer angewiesen. Als Louisa in sein Leben tritt, rechnet er zunächst nicht damit, dass dieser Moment die nächsten Monate nachdrücklich verändern könnte.

Ich liebe Scherenschnittmotive!

Der erste Gedanke, als ich das Cover sah, war ungefähr folgender: „Scherenschnitt! Ich liebe es!“ Im Vergleich zum amerikanischen Layout empfand ich das deutsche Cover, angelehnt an die britische Ausgabe, rundherum gelungen. Ich mag diese monochrome Optik, den Scherenschnittlook, den feinen handwritten-Font und die roten Farbakzente am äußeren Rand des Covers. Es wirkt geradezu unschuldig, wie aus einem Märchen – aber hinter diesem Cover verbirgt sich viel, viel mehr als nur eine märchenhafte Lovestory. Was sagt die Autorin über ihr Buch?

 

Ein Buch, für das ich kaum Worte finde…

Was schreibe ich über ein Buch, das mich emotional so beeindruckt hat? Seite um Seite flog nur so dahin, ich vergaß die Zeit um mich herum – irgendwann dämmerte es, die Sonne ging unter und die letzten Seiten las ich unter meiner Leselampe. Einzig die Vernunft, den morgigen Tag nur mit sofortigem Zu-Bett-Gehen überstehen zu können, ließen mich diesen Roman auf den Nachttisch legen und die Augen schließen. Am Tag darauf las ich am späten Nachmittag sofort weiter und legte »Ein ganzes halbes Jahr« nach 1,5 Lesetagen schließlich zur Seite, mit Tränen in den Augen. Jojo Moyes hat es geschafft, mich nach längerer Zeit aus einer Phase des absoluten Leseblues herauszuholen. Das kommt manchmal auch bei der eifrigsten Büchereule vor, das hat noch nicht einmal mit einem bestimmten Buch zu tun. Als die Lesechallenge Anfang April mit diesen gefühlvollen Roman startete, erhoffte ich mir das Ende dieser Phase und wurde geradezu herauskatapultiert!

Die Autorin schaffte es mit einer Mischung aus leichtem Erzählstil, intensiven Dialogen und einer unglaublich dichten Story zu fesseln, zu Tränen zu rühren, zum Lachen zu bringen – ein Rundum-Care-Paket für jeden Liebhaber von emotionaler Literatur. Doch dieses Buch ist keineswegs kitschig, oh nein. Jojo Moyes hat sich ein sehr ernstes, schwieriges und kontrovers diskutiertes Thema als Grundlage für ihr Buch ausgesucht, denn die Geschichte wird rund um das Thema Sterbehilfe aufgebaut. Allein schon dieses Wort wird bei vielen Stirnrunzeln hervorrufen, doch für Menschen, die tagtäglich an unerträglichen Schmerzen leiden und deren Lebensqualität gegen den Nullpunkt sinkt, bedeutet dieses Wort Erleichterung, Befreiung und selbst bestimmen zu können, diese Qualen, gegen die sie sich nicht wehren können, zu beenden. Kontrovers gestaltet sich Sterbehilfe schon allein aufgrund seiner rechtlichen Grundlage, wobei man hier zwischen aktiver und passiver Sterbebegleitung unterscheiden muss – letztere ist auch in Deutschland erlaubt. Ich möchte hier nun keine Diskussion lostreten, meine Meinung dazu ist ziemlich eindeutig, doch es ist nie verkehrt, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen, seinen Horizont zu erweitern, denn es kann jeden treffen, jung und alt. Jojo Moyes war sich der Brisanz dieses Themas bewusst und hat dies so bewegend, einfühlsam und unglaublich intensiv in ihrer Geschichte verwoben, dass man gar nicht anders kann, als am Ende sich die Tränen aus den Augenwinkeln zu tupfen. »Ein ganzes halbes Jahr« rüttelt auf und hallt auch nach Tagen gleich einer sanften Melodie im Kopf nach.

https://www.gebrauchtebuecher.com/wp-content/uploads/2019/02/jojomoyes_notiz02-96.jpgDieses Buch mit Worten zu beschreiben, ist nicht einfach. Es klingt in mir wie leise Musik, wie ein einprägsamer Ohrwurm, der sich im Herzen verankert hat. Ich zehre gerade noch von diesem Gefühl, welches sich in mir ausbreitete, nachdem ich die Buchdeckel geschlossen habe – von der Intensität und von diesem Wissen im Inneren, ein wirklich gutes, sehr berührendes Buch gelesen zu haben. Tage später, nach dem Beenden des Buches, habe ich immer noch viele, unterschiedliche Eindrücke vor dem inneren Auge und mache mir Gedanken darüber. Wie kurz das Leben doch ist, welch Verschwendung wäre es, nicht jeden Tag so intensiv wie möglich zu verbringen? Diese und andere Gedanken begleiteten mich morgens nach dem Aufstehen, sie machen nachdenklich, lassen reflektieren. Dieses Buch erfüllt mein Herz mit soviel Wärme, aber es lässt uns auch erkennen, wie zerbrechlich wir Menschen sind.

Ich habe unheimliche Angst davor, wie es mit mir weitergeht. […] Ich weiß, dass die meisten Leute glauben, so zu leben wie ich wäre das Schlimmste, was einem passieren kann. Aber in Wahrheit kann es noch viel schlimmer werden. […] Und weißt du was? Davon will niemand etwas hören. Niemand will mit einem über diese Ängste reden oder über die Schmerzen oder den Horror davor, an irgendeiner dummen Infektion zu sterben. […] Im Grunde genommen wollen sie nur die gute Seite sehen. Und sie brauchen es für sich selbst, dass auch ich die gute Seite sehe. – Seite 355

Eine Lebensgeschichte

Jojo Moyes hat keine Liebesgeschichte im Sinne einer rosaroten Lovestory mit kitschigen Sonnenuntergängen und pompösem Heiratsantrag im Mondenschein geschrieben. Dieses Buch birgt so viel mehr zwischen den Seiten, zwischen den Zeilen. Es verkörpert das pure Leben, mit allen Höhen und Tiefen – so authentisch und unverfälscht, wie es nicht besser hätte beschrieben werden können. Ein wenig Klischee wird zwar bedient, unter anderem sei hier der Kontrast „Existenzminimum versus Reichtum“ zwischen den beiden Protagonisten zu nennen, dieser wirkt aber nicht aufgesetzt, denn Will hat vor seinem Unfall das Leben eines jungen Mannes gelebt, der sich alles selbst erarbeitet hat und in seinem Leben viel erreichen konnte. Das klingt nach einem Märchen, ist aber keines. Dieser Roman ist unglaublich pur und ließ mich tief in den Plot eintauchen. Es fühlte sich an, als wäre ich Teil dieser Geschichte, als stünde ich direkt mit im Zimmer, wenn morgens die Vorhänge aufgezogen werden und Lou an Wills Seite sitzt, um ihm beim Frühstück behilflich zu sein. Ich hörte die Meeresbrandung rauschen, glaubte mit am Strand im Sand zu sitzen, während Will auf einer Liege lag und die Sonne genoss. Die Autorin bedient sich einfacher Ausdrucksweise und erzielt damit eine gefühlvolle, gleichbleibend spannende Wirkung,  ich möchte behaupten, sie ließ mich förmlich wie auf Wolken durch das Buch schweben. Ich konnte gar nicht anders, ich musste weiter lesen, immer weiter und weiter. Ich hoffte und bangte, obwohl der – wie ich finde, ein wenig unglücklich gewählte – Titel eigentlich schon andeutet, was den Leser erwartet. Wie farbig Jojo Moyes schreibt, lässt sich am ehesten in diesem Zitat erahnen, einfach wunderbar:

Der Frühling kam über Nacht, als hätte der Winter wie ein ungebetener Gast plötzlich seinen Mantel genommen und wäre grußlos abgezogen. Alles wurde grün, die Straßen badeten in einem wässrigen Sonnenschein, die Luft war auf einmal mild. Die Vögel zwitscherten, und eine Ahnung von Blütenduft und Freude lag in der Luft. – Seite 131

Es gibt Szenen in »Ein ganzes halbes Jahr«, da verspürte ich den unbändigen Drang, der Protagonistin ins Gesicht zu brüllen, weil sie mir gar so unbeholfen und verantwortungslos vorkam. An anderer Stelle hätte ich zu gerne neben Wills Rollstuhl gesessen und mich mit ihm unterhalten. Die Autorin hat diesem Charakter einen sarkastischen, stellenweise sehr schwarzen Humor verliehen, der einfach klasse, erfrischend und perfekt zu diesem Menschen passte. Wills Zielstrebigkeit, Eleganz und Cleverness gefiel mir unheimlich gut, seine Stärke, seine Willenskraft und sein Wissendurst bildeten einen klaren Kontrast zu Lous stellenweise wirklich unbeholfenem Charakter und verliehen ihm die eigentliche Hauptrolle im Buch. Er erträgt alles mit soviel Tapferkeit, das ist einfach nur bewundernswert. Ein weiterer klarer Pluspunkt: er liebt klassische Musik genauso wie ich!

Lou & Will

Versteht mich nicht falsch, ich mochte Lou. Sie ist kunterbunt, planlos, denn sie weiß mit ihren 27 Jahren noch nicht wirklich, wohin ihr Weg sie führen wird und klammert sich zudem an eine langjährige Beziehung, die man ob ihrer Eintönigkeit und verpuffter Gefühle nicht wirklich als solche definieren kann. Aber in diesem Alter sollte man eine gewisse Reife besitzen, die setze ich einfach voraus und da enttäuschte mich Lou in manchen Kapiteln doch sehr. Pluspunkt: ihre niedlichen Strumpfhosen! Wovon ich spreche? Lest das Buch!

Die Ich-Perspektive aus der Sicht der jungen Frau erzielt zwar die Wirkung, dass sie die tragende Rolle in diesem Buch inne führt, doch es ist ganz klar, wer hier im Vordergrund steht. Überraschenderweise wechselt Moyes mehrmals im Verlauf der Handlung die Erzählperspektive zu anderen Familienmitgliedern. Das war ein hervorragender Schachzug, denn wie könnte man besser die Situation betrachten, als das Umfeld selbst mit Gedanken und Schilderungen zu Wort kommen zu lassen? So erweitert sich wiederum das Blickfeld für mich als Leser, ich konnte mich in die Emotionen des Umfeld hineinfühlen und bemerke, wie unterschiedlich die Menschen in Wills Umgebung – seine Mutter, sein Vater, sein Pfleger – auf die ein und selbe Situation reagieren, was sie bewegt und wie sie damit umgehen. Intensiver lässt sich die emotionale Vielschichtigkeit nicht niederschreiben. Klasse gemacht, liebe Jojo!

Genieße einfach das Leben. Lebe einfach. – Seite 519

Jojo Moyes | Ein ganzes halbes Jahr | Original: Me before you, 2012
Rowohlt Polaris | 21. März 2013
Klappenbroschur, 512 Seiten | 978-3499267031 | 14,99€
zum Buch beim Verlag

 

Mein Fazit: Ein bewegendes Buch so voller Leben & Kraft, welches das Herz erwärmt und noch lange nach dem Umblättern der letzten Seite nachklingen wird! Eine gefühlvolle, intensive Lebensgeschichte über eine ganz besondere Freundschaft, die mit Liebe ihren Höhepunkt findet, die man gelesen, gefühlt, erlebt haben muss!

© 2024logo gebrauchtebuecher.com. All rights reserved.