Buchtipp August: John Boyne – Der Junge auf dem Berg (Kinderbuchrezension)
Mein erstes Buch nach einer längeren Lesepause ist zugleich eines, auf das ich aus purem Zufall gestoßen bin. Nachdem mich im Frühling der fabelhafte Auftakt des Highfantasy-Epos »Der Name des Windes« von Patrick Rothfuss begeistern konnte, griff ich nun zu einem Buch mit einem von mir sehr gern gelesenen Thema. Natürlich ist mir der Name John Boyne geläufig. Mit ihm verbinde ich seinen vor fast zehn Jahren erschienenen Roman »Der Junge im gestreiften Pyjama«, das ich selbst erst vor wenigen Jahren gelesen und welches mich sowohl tief berührt als auch sehr nachdenklich zurückgelassen hat. Die Verfilmung, unterlegt vom Soundtrack des schmerzlich vermissten Filmmusikkomponisten James Horner, gehört aus meiner Sicht mit zu den besten Buchverfilmungen der letzten zehn Jahre.
Als ich nun vor ein paar Tagen erfuhr, dass der Autor ein weiteres Buch mit Weltkriegsthematik im Fischer Verlag veröffentlichen würde, wanderte »Der Junge auf dem Berg« ohne zu Zögern in meinen Warenkorb. Erfreulicherweise hat mich der Brite mit seiner fabelhaften Schreibe nicht enttäuscht. Er hat erneut eine Geschichte niedergeschrieben, die ich loslassen, und doch gleichzeitig beständig im Kopf belassen möchte.
Der Junge auf dem Berg
1936. Der siebenjährige Pierrot lebt gemeinsam mit seiner Mutter Émilie in einer kleinen Wohnung in Frankreichs Hauptstadt. Nachdem er seine Eltern auf tragische Weise verlor, verbringt er einige Zeit in einem französischen Waisenhaus, bis ihn schließlich seine Tante Beatrix zu sich in ihren Haushalt nach Deutschland holt. Beatrix ist Hauswirtschaftlerin auf einem Berghof mitten in den bayrischen Alpen. Nicht irgendein Berghof. Es handelt sich um Hitlers Sommerresidenz. Im Laufe der kommenden Monate und Jahre wird der Junge zunehmend in Hitlers Bann gezogen und ist bereit, bis zum Äußersten zu gehen…
Es begann harmlos…
»Der Junge auf dem Berg« beginnt harmlos, leise und unschuldig. Es ist die Geschichte einer tiefen, von Geburt an bestehenden Freundschaft zwischen einem deutschstämmigen, in Frankreich aufgewachsenen Jungen namens Pierrot und seinem gleichaltrigen, jüdischen Freund Anshel. Es ist eine besondere Freundschaft, denn Anshel ist gehörlos. Im Laufe der Jahre haben die beiden Jungen eine eigene Gebärdensprache entwickelt, mit der sie sich verständigen können. Niemand der beiden ahnt, was der Krieg in den kommenden Jahren anrichten würde. Während Boyne seinen Protagonisten in kindlicher Naivität in Sicherheit wog, begriff mein mit historischem Hintergrundwissen informierter Verstand natürlich, was im Umfeld der Hauptfigur vor sich ging. Am liebsten hätte ich manchmal laut „wach auf!“ gebrüllt, während ich an anderer Stelle meine Hand schützend über das Kind ausbreiten wollte.
„Ich darf nicht mehr über meine Freunde sprechen, ich darf meinen Namen nicht mehr benutzen“, sagte Pierrot verdrossen. „Gibt es noch was, das ich nicht tun darf?“ – Seite 122
Auch ich konnte nicht ahnen, wie gnadenlos und gleichzeitig auf seltsame Weise faszinierend die kommenden 300 Seiten auf mich wirken würden. Boynes Schreibe zog mich unwiderstehlich mit sich. Ich blätterte Seite um Seite um und bemerkte gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Drei Stunden später schlug ich das Buch zu, lehnte mich zurück und musste erst einmal durchatmen.
Keine einfache Lektüre
Diese Lektüre würde keine Leichte werden, das war mir von vornherein klar. Ich habe mein literarisches Erlebnis mit »Der Junge im gestreiften Pyjama« noch allzu intensiv in Erinnerung, muss jedoch gestehen, dass meine literarische Begegnung mit Pierrot und seiner Verwandlung im Laufe der Kriegsjahre noch um einiges verstörender auf mich wirkt. Es war erschreckend mitzuerleben, wie sich aus dem unschuldigen, naiven Kind ein junger Mann entwickelte, der der vermeintlich charismatischen Macht eines Wahnsinnigen anheimfiel. Von Seite zu Seite fiel es mir schwerer, meine aufbrodelnden Wutgefühle in Zaum zu halten. Ein für mich besonders seltsames Gefühl war es, den Namen meines ehemaligen Heimatortes zu lesen. Über den Ort, in dem ich aufgewachsen bin, in seinem geschichtlichen Zusammenhang zu lesen, machte mich sehr nachdenklich und ließ gleichzeitig Schauer über meinen Rücken laufen.
»Der Junge auf dem Berg« ist eine Mahnung, ein rot blinkendes Warnschild. Passenderweise ist das Buch von einem Cover umgeben, dessen Farbgebung von der nationalsozialistischen Flagge inspiriert worden zu sein scheint. Dieser Roman, welcher vom Verlag in der Sparte Kinderbuch angeboten wird, ist so viel mehr als nur ein rund 300 Seiten umfassendes Buch – keines, das man einmal lesen und anschließend für immer unberührt ins Bücherregal stellen würde. John Boyne schreibt über die unbequeme Wahrheit, wühlt auf, ließ mich erschrocken einatmen und hoffen, dass der zarte, zerbrechliche Geist Pierrots Widerstand leisten würde. Wie oft war ich fassungslos und fand Parallelen zu unserer Gegenwart – in einer Zeit, in der viele Menschen mit leeren, simplen Phrasen leicht zu beeinflussen sind und man alles daran setzen muss, Widerstand gegen Hass zu leisten und gleichzeitig der heranwachsenden Generation Lehren aus der Vergangenheit mitzugeben.
Mein Fazit: Mein erster Gedanke nach dem Umblättern der letzten Seite war: „Das Buch sollte zur Pflichtlektüre an Schulen werden.“ Der Altersempfehlung ab 12 Jahren kann ich mich anschließen, allerdings wäre eine Begleitung von Erwachsenen mit dem zugehörigen Hintergrundwissen sinnvoll, um die Zusammenhänge besser verstehen zu können. Für noch jüngere Leser empfiehlt sich beispielsweise »Flügel aus Papier«. John Boyne hat mich mit seinem jüngsten Werk nachhaltig beeindruckt, bewegt, verstört und nachdenklich im Lesesessel zurückgelassen. Trotz oder gerade wegen der schwierigen Thematik kann ich nur eine unbedingte Leseempfehlung aussprechen. Man kann gar nicht genug aufrütteln und daran erinnern, wie schmal der Grat zwischen blindem Hass und gesundem Menschenverstand ist.
Der Junge auf dem Berg | John Boyne
Fischer Verlag | August 2017 | ab 12 Jahren
Hardcover, 304 Seiten | 978-3-522-20230-5 | 16,99€
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